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Bist du die Frau, die du als kleines Mädchen hast sein wollen?


Als ich vor einigen Jahren in meiner Heimatstadt strandete, weil ein Arbeitsvertrag beendet war und ein anderer erst Monate später beginnen sollte, saß ich wieder einmal in meinem Kinderzimmer. Ich schaute aus dem Fenster in den mir so bekannten Garten, der von hohen Kiefern gesäumt war und in dem Kirsch- und Apfelbäume wuchsen, auf denen verspielte Eichhörnchen akrobatische Kunststücke vollführten. Ein violetter Flieder nahe der Gartenterrasse lockte Dutzende Schmetterlinge in allen Farben an; irgendwo pickte ein Specht ein Loch in einen Baumstamm und ich beobachtete im dichten Gras hüpfende Amseln, die im Boden nach Würmern suchten und schrill alarmierten, wenn sich jemand ihrem Nest näherte. Ein Entenpaar flog tief über den Garten hinweg, um zum Teich in den Nachbargarten zu gelangen. Elstern näherten sich, hüpften scheinbar ziellos herum und flogen wieder von dannen. Es gurrten Tauben und zwitscherten Buchfinken. Ab und an bekam man ein stolzes Rotkehlchen zu sehen, dessen Melodie sonst nur die Ohren erkennen durften.

Als ich ein kleines Mädchen war, legte ich von meinem Etagenfester aus oft einen majestätischen Blick auf diesen Fleck Natur, um meine Gedanken zu sammeln. Manchmal setzte ich mich auch auf die Fensterbank, um mich inmitten der Natur auszuruhen; mein Zimmer existierte dann nicht mehr. Wie eine kleine Königin schaute ich auf mein Reich, das mir den Luxus des Horizonts und der Stille gewährte. Im Laufe der Zeit habe ich diesen Ort verloren und ich wage zu sagen, dass wir mit dem Klimawandel wahrscheinlich alle diese Orte verlieren werden: die Diversität und Gesundheit der uns umgebenden Tiere und Pflanzen leiden erheblich und drohen für immer zu verschwinden.


Doch noch war der Garten da und ich auch, weil ich als erwachsene Frau wieder in mein Kinderzimmer gezogen war. Es fühlte sich zwar wie ein Rückschritt an, aber ich schrieb unter anderem mein Gedicht "Seed"; stellte mir dabei viele unangenehme Fragen, die mich manchmal nächtelang wach hielten. Im kalten Mondschein, der den Garten in ein mehrfach schattiertes Blau tauchte, beobachtete ich an die Garagenwand gedrückte, zielstrebig laufende Ratten und erkannte Fledermäuse, die wie Schatten zwischen den hohen Baumkronen der Tannenbäume und Kiefern zirkulierten. Am Tag oder bei Nacht: all diesen perfekten Kreaturen der Natur war es völlig egal, wer ich war, sie brauchten mich nicht. Und ich ? Ich brauchte sie, um zu dem kleinen Mädchen zu finden, das ich einst war.


Kennst du auch Orte, die dich in die Vergangenheit katapultieren und in denen du die Kollision von Vergangenem und Gegenwärtigem aushalten musst?

Angesichts meines fehlerhaften und begrenzten irdischen Daseins als Mensch, der die Natur zu unterdrücken sucht, ließen mich auch folgende Frage nicht los: Bin ich es würdig als Mensch Teil der Natur zu sein ? Bin ich die Frau, die ich als kleines Mädchen habe sein wollen ? Das sind zweifelsohne große Fragen, über die man ganze Abhandlungen schreiben und monatelang diskutieren kann. Aber vielleicht sind sie doch einfacher zu beantworten, als man denkt: Als Teil der Natur tragen wir Menschen die Natur nämlich auch in uns. Weil wir die Natur missbrauchen, wird der Planet für uns unbewohnbar. Es scheint ein klares Gesetz der Natur zu sein, weil sie unser Verhalten miteinbeziehen muss.


Wenn ich mir das ewig Lebende und Sterbende im Familiengarten anschaute, der für uns Garten und für die Tiere schlichtweg Lebensraum darstellte; wenn ich mich selbst im Spiegel betrachtete, die ihr Leben zu analysieren suchte (Hatte ich immer die richtigen Entscheidungen getroffen ?), dann war es wohl besser wie die Natur auf den natürlichen und unordentlichen Werdensprozess zu vertrauen; im Einklang mit sich selbst zu leben, sowie der Familie und die Natur dabei nicht auszuschließen.


Ich hatte als Mädchen immer die Welt entdecken wollen, war gespannt und neugierig auf die Natur, spielte mit den anderen Kindern in den Familiengärten, entdeckte die durch den Regen an die Oberfläche gespülten Regenwürmer, die selbst durchgetrennt weiterleben konnten; sah ehrfürchtig den Bussarden über den naheliegenden Feldern bei ihren Beuteflügen zu und fragte mich, wie viele Tunnel die Maulwürfe gegraben hatten, dessen Hügel wir zum Ärger unserer Väter überall sehen konnten. Oft verrät das Sichtbare nicht, was im Unterirdischen verborgen ist. So ist es auch im menschlichen Werdensprozess.



In meinem Gedichtband "Goldklingeln. Gedichte & Texte" kann man Gedichte und Texte lesen, die zwischen den Jahren 2006 und 2020 entstanden sind. Zuerst fragte ich mich, ob ich sie chronologisch aufführen sollte. Da die menschliche Entwicklung niemals linear, sondern zirkulär ist, ergab es jedoch keinen Sinn: Die Lebensthemen kehren immer wieder zu uns zurück und offenbaren jedes Mal einen weitere Möglichkeit zur Einsicht über sich selbst und der Welt. Ich entschloss mich also eine fast alchimistische Einteilung in "Licht", "Schatten", "Gold" vorzunehmen: Wir können etwas in uns beleuchten oder geblendet werden. Zu viel Licht kann zur Illusion führen. Der Schatten ist das im Dunkeln Ausharrende, vor dem wir uns manchmal fürchten, wenn es an die Oberfläche kommt. Und schließlich das Ablegen von Täuschung und Enttäuschung, das uns verändert und zu unserem wahren Kern finden lässt: unser ganz persönliches Gold.


Für die Natur bedeutet Gold, soviel wie Wasser oder Erde. Es erkennt keinen höher gestellten Wert im Gold, weil die Tiere und Pflanzen es nicht zum Überleben brauchen. Ihr Dasein ist perfekt eingegliedert in die mannigfaltigen Zyklen der Natur. Ich wage allerdings zu sagen, dass wir Menschen dringend an etwas Höheres appellieren müssen, um der Natur würdig zu sein. Wir Menschen sollten im Sinne der Ganzheitlichkeit und Verträglichkeit mit der Natur prioritisieren, um uns individuell und kollektiv zu sublimieren. Deshalb greifen auch alle intellektuellen oder religiösen Sublimierungsversuche zu kurz, da in ihnen nicht nur Frauen und Kinder, sondern vor allem auch die Natur zu kurz kommen. Seine natürliche Beschaffenheit einfach wegzudenken oder zu ignorieren, um einem engelsgleichen, unfehlbaren Ideal zu entsprechen, hat uns in der Menschheitsgeschichte zu den grausamsten Taten verleitet und der Politik und Religion einen schlechten Ruf beschert.


Kommen wir nun zur zweiten Frage: Bin ich die Frau, die ich als kleines Mädchen habe sein wollen? Wie in der Aufteilung meines ersten Gedichtbandes "Goldklingeln. Gedichte & Texte" habe ich viele Illusionen überwinden müssen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man auch mal Brach liegen muss und dass dies Teil des natürlichen Prozesses ist. In der vermeintlichen Unbeweglichkeit kommen dunkle Gedanken und schwere Gefühle hervor, die sich dann nach ernst gemeinter Anerkennung verflüchtigen können. Ich brauche kein Fensterbrett mehr, um mich darauf an mich als kleines Mädchen zu erinnern. Ich habe sie damals einfach umarmt und mitgenommen: Wenn das ewig interessierte, kleine Mädchen sagt: "Ich möchte heute Abend schreiben und dann ein neues Buch anfangen!" Dann ist die Frau, die ihrem Willen folgt, obwohl es Wichtigeres zu tun gibt, schon ganz zufrieden mit sich selbst.


© Manou Fines



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